marian gunkel
privat
                                                

 
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Von Ipswich nach Shotley Gate im Vorfrühling


Reisebericht

Der Bug wird wieder einmal kräftig unter Wasser gedrückt und bleibt dort für einige Sekunden. Zurücklehnen hilft auch nicht viel, also eine flache Stütze nach links und das Boot vorsichtig abgebremst. Leider drückt mich die immer noch schiebende Welle seitwärts, ohne Steuer kann ich nicht recht ausgleichen. Die Welle wellt weiter. Die nächste hebt mich nur noch an, da ich durch das Abbremsen zu langsam bin, um wieder ins Surfen zu kommen. So hatte ich mir diese Solo-Tour nicht vorgestellt. Nicht bei diesem kalten, böigen Wind, nicht bei diesen kurzen, steilen Wellen.

Eigentlich sah alles perfekt aus. Der Wetterbericht für Samstag versprach abflauenden Wind aus NW, 3-7°C und Sonne. Die Tide sollte um 11 Uhr kippen und mich die 20 km bis Shotley Gate hinunternehmen, Zeit genug, um zum Fluss zu kommen und das Boot in Ruhe aufzubauen. Am Abend vorher hatte ich noch die guten OS Pathfinder Karten (1:25 000) von meiner Managerin Chris besorgt und studiert, alle Sachen zurechtgelegt.
Am nächsten Morgen dauert alles ein wenig länger als geplant, so dass ich den lift meines Vermieters Terry hinunter zum Orwell dankend annehme.

Der Orwell wird ab Ipswich zum Tidengewässer und mündet zwischen Harwich und Felixstowe in die Nordsee. Einen Kilometer vorher, bei Shotley Gate, nimmt er noch den Stour auf, der direkt aus Westen kommt und ab Manningtree ebenfalls tidenabhängig ist. Schon seit meiner Ankunft im Oktober hatte ich eine Tour auf diesen beiden Gewässern vor, idealerweise die Strecke Ipswich - Manningtree mit Tidenunterstützung und einer Übernachtung. Aus verschiedenen Gründen war ich nie dazu gekommen, diese Tour zu verwirklichen. Jetzt, mit neuer Schwimmweste und in Vorbereitung auf einen Seekajakkurs in Wales sowie eine längere Tour in Schottland im April, mußte ich endlich wieder paddeln gehen.

AUfbauen in der Kältegepackt: Los geht's!Der Aufbau am Orwell dauert länger als geplant. Die Bootshaut ist bei diesen Temperaturen (ca. 5°C) sehr steif, auch die Spritzdecke läßt sich nur mit Mühe auf das Cockpit ziehen. Am Ufer hat sich an schattigen Stellen noch ein wenig Schnee bzw. Hagel von gestern gehalten. Schnell noch in den Trockenanzug schlüpfen, die diversen Blicke der Spaziergänger ignorieren.

 

 

 

Paddeln in IpswichEndlich kann ich das Boot zu Wasser lassen. Hier in der Stadt spüre ich den Wind noch nicht so, so dass ich ohne Paddelpfötchen und Neohandschuhe paddele. Mein geliebter gelber Südwester dient als Sonnen- und Windschutz.
Zu Beginn ist das Sitzen im Boot noch ungewohnt und bald meldet sich der Rücken. Die Paddelschläge gehen jedoch so automatisch und leicht von der Hand, als ob ich gerade gestern erst gepaddelt wäre. Nur mit der Ausdauer hapert es nach der langen Winterpause, so dass ich alle 10 Minuten Pause mache.

Ipswich Docks

Die erste Strecke durch Ipswich ist eher von Häusern, Docks und Hafen geprägt. Die Strömung der ablaufenden Tide bringt mich schnell an den alten Dockgebäuden vorbei: für an Industriearchitektur des letzten Jahrhunderts Interessierte wirklich ein Leckerbissen! Ich passiere einige Pubs, Marinadie Marina und durchquere schnell das Hafenbecken, in dem heute relativ wenig Verkehr herrscht. Ipswich war und ist immer noch ein durchaus wichtiger Industriehafen. Über den Orwell können bei Hochwasser auch größere Schiffe bequem Ipswich erreichen. Ich sehe u.a. ein russisches und ein norwegisches Schiff vor Anker, ansonsten die typischen Hafenanlagen mit Containern, Holz und Schüttgut.

Bald kommt die Orwell Bridge in Sicht, eine riesige Betonbrücke, die den Industrieverkehr vom Felixstowe Hafen ins Landesinnere erträgt. Ich treibe schnell darunter durch. Die Brücke markiert gleichzeitig den Wechsel vom Hafen zur relativ ungestörten Flußlandschaft des unteren Orwell. An den Ufern ist stellenweise schon "Watt" zu erkennen. Da ich nicht weiß, wie weiter unten das Watt aussieht und wie ich in Shotley Gate wieder an Land komme, paddele ich schnell weiter, anstatt mich treiben zu lassen. Der Ebbstrom ist spürbar. Sowohl anhand des Ufers als auch an der "Bugwelle" der Bojen sehe ich, wie schnell ich flußabwärts bewegt werde.

Zur Schnelligkeit trägt auch der Wind bei, der ab dem Hafenbecken spürbar aufgefrischt hat. Zunächst kann ich ihn noch vernachlässigen, aber bald rauscht es links und rechts, vor und hinter mir. Die Wellen werden höher und brechen regelmäßig. Das Boot kommt immer wieder ins Surfen. Glücklicherweise kommen sowohl Wind, Tidenstrom als auch Wellen von hinten. Nicht auszudenken, wenn der Wind entgegengesetzt der Tide wehen würde! In dem Kabbelwasser hätte ich arge Probleme!
Aber auch so ist es nicht gerade problemlos. Die Wellen sind sehr kurz und sehr steil. Wenn ich auf dem Rücken einer Welle ins Surfen komme, bohrt sich der Bug unweigerlich tief in die nächste Welle und bleibt dort für etliche Sekunden. Durch das fehlende Steuer kann ich leider auch nicht richtig mit jeder Welle mitsurfen, sondern muß mit Paddelschlägen die Lage des Bootes zur Welle ausgleichen. Dies mißlingt mir mehr als mir lieb ist, so dass die nächsten Wellen fleißig über das Deck des quergedrehten Bootes schwappen.

Langsam macht sich Panik breit. Der Fluß ist ziemlich breit, der Wind pfeift, die Wellen brechen, ich habe Hunger und reagiere zunehmend langsamer auf die schneller und steiler werdenden Wellen. Auf der linken Flußseite sehe ich einen Kiesstrand, dahinter Wald. Dorthin paddele ich, um zunächst eine Pause zu machen, zu trinken und zu essen und um die Lage abzuschätzen. Schräg zu den Wellen zu paddeln ist schwieriger als ich dachte, so dass ich einiges Wasser übers Deck bekomme und immer wieder stützen muß. Endlich treiben die Wellen mein Boot auf den Strand. Natürlich kommen gerade jetzt ein paar extragrosse Wellen und schütteln das Boot noch einmal durch. Schnell ausgestiegen und das Boot ein Stückchen auf den Strand gezerrt. Die Tide wird kurz danach das ganze Boot freigelegt haben.

Pause
Nach 10 Minuten liegt das Boot auf dem Trockenen

Im Windschatten eines alten, dicken Eichenbaumes gibt es Sandwiches, Bananen, Kuchen und Wasser. Ich studiere die Karten und den Busfahrplan und beschließe, auf die andere Flußseite zu paddeln, die Tour abzubrechen und den Bus zurück nach Ipswich zu nehmen. Ein Toilettengang ist mit Hindernissen verbunden: so ein Trockenanzug ist nicht so einfach auszuziehen! Schnell noch ein digitales 15-Sekunden-Video vom Fluß aufgenommen (leider sieht man die Wellen nicht so gut im Gegenlicht), dann mache ich mich auf den Weg zur anderen Flußseite. Drei Bootslängen muß ich das Boot zum Wasser zerren. Die Methode "Bug anheben und um 180° zum Wasser tragen, während sich das Boot auf dem Heck dreht" bewährt sich einigermaßen, obwohl sie nicht gerade bootshautfreundlich ist.

Beim Ablegen versinke ich zunächst einige Male bis über den Knöchel im Schlamm. Gut, dann halt per halbem Robbenstart: das Boot so weit ins Wasser geschoben, dass es fast frei schwimmt, dann schnell in den Sitz geplumst. Die Füße baden noch links und rechts im Wasser, während ich schon lospaddele. Natürlich nehme ich wieder ein wenig Wasser über, aber ich bin erstmal weg vom Ufer. Zum Glück ist die Luke groß genug, so dass ich die Beine einfach so ins Boot schwingen kann. Leider klebt immer noch eine Menge Schlamm an den Neoschuhen: die Spante Nr. 2 sowie der Packsack, der die Digicam enthält nehmen also ebenfalls einigen Schlamm auf. Im Blitzverfahren befestige ich die Spritzschürze, dann bin ich wieder vollkommen gerüstet für die hinterlistigen Wellen.

Aber eigentlich sind sie gar nicht so hinterlistig, ich komme gut mit ihnen zurecht. Das Essen, Trinken sowie die Pause haben mir neue Kräfte (geistig und körperlich) gebracht. Ich beschließe, doch nicht die Tour abzubrechen, sondern bis Shotley Gate durchzupaddeln. Die Rückenschmerzen sind ebenfalls verschwunden, außerdem kann ich zunehmend länger durchpaddeln. Vorbei gehts also an Marschland, diversen Marinas, Bojen, Wiesen und Flachland. Das Wasser ist immer noch ziemlich hoch, so dass der Fluß zeitweise über einen Kilometer breit ist. Bei Niedrigwasser zieht er sich auf ein Flußbett von 200m Breite zurück. Leider kann ich die Gegend links und rechts vom Fluß gar nicht richtig genießen, da Wind und Wellen immer noch recht tückisch sind. Ich habe jetzt auch die Neohandschuhe an, da mir nach der Pause ziemlich kalt war. Alle 30-40 Minuten passiert mich ein Segler oder ein größeres Schiff auf dem Weg nach Ipswich. Ansonsten ist der Fluß leer.

5 km vor Shotley Gate dreht der Wind und kommt nun seitlich von hinten. Das ändert die Lage zum Schlechten hin, da die Wellen immer noch aus der selben Richtung kommen. Mein Bug dreht sich immer wieder in den Wind, damit dreht sich das Boot quer zu den Wellen. Zeitweise paddele ich nur auf der rechten Seite. Das war nicht im Sinne des Erfinders des Doppelpaddels! Ich beschließe, dass ich für Wales und Schottland unbedingt ein Steuer haben muß.

Felixstowe und Nordsee voraus!Shotleygate kommt näher

Die Kräne von Felixstowe und Harwich, zwei der bedeutendsten Häfen hier an der englischen Ostküste, kommen in Sicht. Ich passiere den Containerterminal von Felixstowe auf der linken Seite und spähe schon nach einem geeigneten Anlandeplatz auf der rechten Seite aus. An der Marina von Shotley Gate wird fleißig gebaggert, ich weiche gerade so einem Betonanlegeplatz aus, der knapp von den Wellen überspült wird. Am von einer Schleuse geschützten Eingang zur Marina entdecke ich einen passablen Anlegeplatz: Sand und Kies, kein Schlamm, kurz dahinter Gras und Betonweg für den Abtransport des Bootes. Auf meiner Karte gibt es aber noch ein paar andere Piers näher an der vermuteten Bushaltestelle. Zum Glück bin ich jetzt im Windschatten des Ufers und paddele die letzten paar hundert Meter zum verfallenen Admirality-Pier (sic!). Klasse! Dort sehe ich eine Betongangway, die direkt ins Wasser führt. Ein Jollensegler meint, dass ich unbesorgt dort anlegen kann und tut kurz drauf das gleiche. So entwische ich dem Schlamm.

Es tut gut, wieder auf dem Trockenen zu sein. Obwohl ich jetzt, im Windschatten und mit der tiefstehenden Sonne, gern noch weitergepaddelt wäre ... Der Jollensegler meint auf meine Frage, dass es etwa 5 Beaufort, in Böen 6 gewesen sind. 5 sind normalerweise mein Limit.

Als ob nichts gewesen wäre: alles gepacktIch baue langsam das Boot ab, leere die etwa 10 Liter Wasser aus dem Boot aus und schieße ein paar Disketten voll Fotos. Dann pelle ich mich aus dem Trockenanzug, ziehe meine Zivilkleidung an, schnappe mir den Bootswagen mit den daraufgeschnallten Packsäcken und gehe zum nächsten Pub. In einer halben Stunde, kurz nach 17 Uhr, kommt der nächste Bus, das reicht noch für ein Murphy's und einen kleinen Spaziergang am Ufer entlang. Ich geniesse die Sonne, die "Wärme" und die Aussicht auf das glitzernde Watt. Der Bus fährt fast an mir vorbei, im letzten Moment hebe ich den Arm und er hält. Auf meine Frage, ob das ganze Gepäck okay sei (ich habe eh keine andere Wahl), meint der Fahrer nur "Hurry up!". Im Laufschritt verfrachte ich das ganze Gepäck in den Bus, der - ganz unenglisch - viel Platz für Rollstuhlfahrer, Kinderwagen und Koffer hat. An Faltboote hat wohl niemand bei der Planung des Busses gedacht, denke ich mir, als ich auf der Rückfahrt immer wieder einen Blick hinunter auf den Orwell erhasche.

 

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    marian@faltboot.de, 11.03.2000